„Der Fall Arbogast“ geschrieben von Thomas Hettche, Kriminalroman. Allerdings ein Kriminalroman basierend auf einem realen Fall aus den 50er Jahren in der BRD. Ein sog. „Lustmord“ sorgt für Aufsehen und das Wiederaufnahmeverfahren Jahre später ebenso. Doch genug der Appetithäppchen!
Warum ich dieses Buch empfehle? Tja,es ist zwar als Kriminalroman deklariert, jedoch ein Stück weit auch Justizgeschichte. Deutsche Justizgeschichte, die in Ihrer Zeit für Aufsehen sorgte. „Der Fall Arbogast“ beschreibt die Geschichte von Hans Arbogast,der im September 1953 im Landkreis Grangat eine junge Anhalterin ,Marie Gurth, mitnimmt. Mit der 25jährigen Frau hat er (einvernehmlichen) Geschlechtsverkehr und sie stirbt währenddessen. Arbogast legt die Leiche an einer ruhigen Stelle der Landstrasse ab und stellt sich nach Erscheinen der Fotos der Leiche der Polizei.
Obwohl er beteuert unschuldig zu sein und den Tod der Frau nicht verschuldet zu haben, kommt es zum Prozess. Und damit beginnt auch die Kette der Justizgeschichte: Im Obduktionsbericht vermerkt der zuständige Phatologe die Frau sei an Herzversagen gestorben, Missbrauch in Form von einer Vergewaltigung sei nicht festzustellen. Der Prozess macht Arbogast zum „Lustmörder“, intime Details werden breitgetreten und auch die angebliche Größe seines Geschlechtsteils werden Teil der Anklage. Schließlich sorgt ein Gutachten des (zu dieser Zeit) hoch angesehenen gerichtsmedizinischen Sachverständigen Prof. Maul die Wendung: Er stellt fest, entgegen dem was im Obduktionsbericht steht und nur aufgrund von Fotografien, Arbogast habe die Frau vergewaltigt und mit einem Kälberstrick erdrosselt. Das Urteil fällt, Arbogast wird zu lebenslanger Zuchthausstrafe mit Aberkennung der Ehrenbürgerrechte verurteilt. Und das nur aufgrund des Gutachtens von Prof. Maul. Nach vierzehn Jahren in Haft kommt es dann nach mehreren Versuchen zum Wiederaufnahmeverfahren. Auch hier wieder ein Stück Geschichte: Im Wiederaufnahmeverfahren stützt sich die Verteidigung auf das Gutachten eines Sachverständigen der DDR, Dr. Katja Lavan. Der Autor lässt ein wenig Ost- Westdeutsches in den Roman fließen, sehr interessant die Reise der Gutachtern von Ostberlin nach Grangat, die damit verbundenen Kontrollen und die Richtlinien zum Wechsel von Ostmark in Westmark. Das Ende des Romanes verrate ich nicht, selbst wenn wäre er lesenswert. Thomas Hettche gab den Beteiligten am Realen Fall andere Namen, hat aber die wesentlichsten Dinge so belassen wie sie auch in der Realität waren. Besonders die Jahre Arbogasts im Zuchthaus beschreibt er nüchtern und ohne dabei zuviel auszuschmücken. Vermisst habe ich lediglich ein wenig mehr „Juristerei“, was aber den Roman nicht schlechter macht. Die Thematik des Justizirrtums und welche Deckungsmechanismen in Gang geworfen werden ist von ihm mehr als gut beschrieben, so hat er nicht darauf verzichtet einerseits das Rudel der Presse lechzend und wartend zu beschreiben und auf der anderen Seite die Schwierigkeiten das Wiederaufnahmeverfahren zu ermöglichen,besonders den Kampf das für das Urteil ausschlaggebende Gutachten als unhaltbar zu entlarven. „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“ trifft es hier ziemlich genau.
Der Roman hat mich so sehr gefesselt, dass ich dazu übergegangen bin etwas über den Realen Fall herauszufinden. Erstaunt hat mich,dass Thomas Hettche kaum von der Realität abgewichen ist. Der im Roman als Lustmörder verurteilte Hans Arbogast war Hans Hetzel. Der Ort des Geschehens war Kreis Offenburg, dort fiel auch das Urteil gegen Hetzel. Der Gutachter dessen Aussagen das Urteil erst ermöglichten war im Roman Prof. Maul, im realen Prozess war es Prof. Dr. A. Ponsold, zu dieser Zeit „der Star unter den Westdeutschen Gerichtsmedizinern“. Die im Roman später hinzugezogene Ostdeutsche Pathologin Dr. Katja Lavans war im realen Fall Prof. Dr. Otto Prokopp aus Ostberlin. Auch die im Roman erwähnten Artikel im Spiegel gab es tatsächlich, der Journalist im Roman wurde Henrik Tietz getauft, in der realen Berichterstattung schrieb Gerhard Mauz die Artikel. Da es kaum Material zum realen Fall gibt, bis auf die Gerichtsunterlagen im Landesarchiv Baden-Württemberg hier die besagten Spiegel Artikel:
„Ich muss ihr die Luft abgestellt haben, Spiegel vom 14.02.1966.
„MIt dem Töten in Näherem Verhältnis“ Spiegel vom 05.09.1966.
„Alter Mann mit Strick beim Abendbrot“ Spiegel vom 07.10.1968.
„Noch Fragen zum Enddarm?“ Spiegel vom 03.11.1969.
„Zu feige die volle Wahrheit zu sagen“ Spiegel vom 10.11.1969.
Alles in allem ist dieser Justizirrtum „nur“ einer von vielen, makaber aber finde ich persönlich die Einschätzung der Anklage. Vom sadistischen Täter ist die Rede in einer Zeit in der noch „Unzucht“ das beschrieb was heute schon normal ist. In einem prüden Nachkriegsdeutschland, einer Justiz die auf einen „Star“ und dessen Gutachten vertraut und vor allem auch die Tatsache, dass die Zuchthausstrafe zu dieser Zeit tatsächlich nicht nur so hiess, sondern auch die Aberkennung jeglicher Bürgerrechte bedeutete, verbunden mit der „Schweigehaft“. Schweigehaft hiess nichts anderes als völlige Einsamkeit, da der Kontakt zu anderen Häftlingen unterbunden wurde. Im Roman sagt der Zuchthaus Pfarrer zu Arbogast er dürfe nicht mehr wählen gehen, habe auch sonst keine Rechte mehr, er könne also gestehen. Hetzel hat bis zuletzt seine Unschuld beteuert.
Der Fall Arbogast
Thomas Hettche
ISBN 3-548-60321-1